In über 90 Prozent der von einheimischen Radiosendern gespielten Lieder geht es um das gleiche Thema: die Liebe. Unglückliche Liebe, Untreue, neue Liebe, in allen Variationen, jeden Tag auf's Neue, schluchz. Pop-Musik aus Taiwan: eine Mischung aus Augenblicksklängen und Liebe. Kolossal -- doch Scherz beiseite: Auf die Dauer ist das wohl ein bisschen wenig. Liebe und Pop allein bilden noch keine Kultur.
Schnelle wie langsame romantische Lieder machen schon seit jeher den größten Teil der taiwanischen Popmusik aus. Die Musikbranche ist so davon gekennzeichnet, dass man glauben möchte, die Menschen hier wären die liebenswertesten Menschen auf Erden. Egal ob das stimmt oder nicht, die einheimischen Kritiker betrachten das jedenfalls als künstlerische Ödnis, denn man könnte auch über viele andere Themen singen. "Unsere Liedtexter platzen geradezu vor Intelligenz", spottet Huang Sun-chuan, Chefredakteur der in Taipeh erscheinenden alternativen Wochenzeitung Pots Weekly(破報). "Sie schreiben die Liedtexte mit dem ganzen Tiefgang der hirnlosen Liebesgedichte junger Leute."
Dass dieses Thema die einheimische Popmusik so beherrscht, könnte auch daran liegen, dass die Trennungslinie zwischen Pop und anderen Musik-Stilrichtungen in Taiwan weniger deutlich ist als in anderen chinesischsprachigen Gebieten wie Hongkong oder Singapur. "Hongkong hat seine eigenen kommerziellen Pop-Bands und eine sehr eigenständige alternative Szene", berichtet Chang Chao-wei, der im Jahre 1994 ein Buch über die Volksmusik-Bewegung der siebziger Jahre veröffentlichte. "Hier in Taiwan verfallen wir von einem Extrem ins andere, bleiben aber irgendwie dazwischen verwurzelt und nennen das dann Pop."
Durch dieses stilistische Herumschweifen werden Popsongs, in denen es mal ausnahmsweise nicht um das abgedroschene Thema Liebe geht, häufig von Radiostationen gespielt und verkaufen sich dann gut. Die Rockgruppe "Wu Bai & China Blue" landete mit ihrer Single "Luftalarm"(空襲警報) von der taiwanisch-sprachigen CD Einsamer Baum, einsamer Vogel(樹枝,孤鳥) einen großen Hit. Ereignisse aus der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) verbindet Wu Bai(伍佰) mit einem anzüglichen Geschichtsbewusstsein und röhrt den Text über wummernde Rock-Rhythmen: "Über diese Dinge / hat man mir in der Schule nichts erzählt / ... Wir wissen nicht, wann die Flugzeuge wieder kommen." Vor zwanzig Jahren wäre ein Lied mit einer solchen lokalen Prägung noch unvorstellbar gewesen und hätte erst recht kein Hit werden können. Doch wenn man begreifen will, wie die Popmusikszene ihren Kreativitätsbereich erweitern konnte, muss man sich mit der Vergangenheit befassen.
Für den bekannten Filmregisseur Tsai Ming-liang(蔡明亮) haben die schlichten mandarin-chinesischen Lieder aus den sechziger Jahren, die er 1998 in seinen in Cannes preisgekrönten Film Das Loch(洞) einbaute, eine größere künstlerische Autorität als die modernen Songs. "Damals, als Ke Lan [葛蘭,eine bekannte Sängerin in den sechziger Jahren] die Szene beherrschte, gab es hier noch Sänger mit wirklichem Talent, Lieder mit ihrem eigenen Charakter und eine echte Show-Atmosphäre", seufzte er vergangenes Jahr in einem Interview mit der Zeitschrift PC Home Online. "Die heutigen Popsongs sind zu technisch, zu mechanisch. Der Markt will nichts als Idole und hübsche Gesichter."
Das kann man durchaus als generationsbedingten bitteren Spott von Leuten mit bezaubernden Erinnerungen an die sechziger Jahre betrachten. In Wirklichkeit wurden diese sentimentalen mandarin-chinesischen Lieder zu ihrer Zeit als mimizhi yin(靡靡之音), zu Deutsch "dekadente Musik" oder "Schnulze", kritisiert, und das Hören dieser Musik war fast schon ein Akt der Auflehnung.
Das sanfte Geklimper der sechziger Jahre war freilich nicht nach jedermanns Geschmack. "Damals gab es in Taiwans Popmusikkreisen nur wenige Komponisten und Texter", erinnert sich die Musikkritikerin Lo Hsiao-yun, die fast dreißig Jahre lang in der öffentlich-rechtlichen Medienanstalt Broadcasting Corporation of China (BCC) Musikprogramme moderierte. "Popsongs hatten feste Formen mit sehr begrenztem Variationsspielraum. Man konnte meinen, sie wären alle in der gleichen Fabrik gegossen worden." In Japan und dem Westen geklaute Melodien linderten bis Anfang der siebziger Jahre den Mangel an einheimischem Talent.
Im April 1975 starb der Präsident der Republik China, Chiang Kai-shek(蔣介石). Ohne den verblichenen mächtigen Führer und mit zunehmend schwierigen internationalen Beziehungen entstand in der Gesellschaft ein Bedürfnis nach Selbstbestätigung. Während dieser Zeit wurden die rührseligen Liebeslieder und kriecherischen Kopien ausländischer Songs erstmals als zu seicht abgelehnt. Im September 1975 stellte der Volksliedsänger Yang Hsuan(楊弦) die Maßstäbe setzende Platte Moderne Chinesische Volkslieder vor. "Ich fühle etwas Chinesisches, das lange Zeit unterdrückt wurde und sich nun quasi ins Freie kämpft", bemerkte Yang einmal. "Diese stärker werdende Kraft bewegt mich emotional so sehr, dass ich kaum weiter singen kann."
Im Westen verkaufen Disco- und leichte Rockmusik sich blendend, doch in Taiwan wurden wohltuende Volkslieder auch durch Yangs bewegende Bemühungen der große Renner. Man nannte den Stil zuweilen "Campus-Lieder"(學園歌) -- nicht ganz zutreffend, denn die meisten seiner Stars wurden nicht auf dem Uni-Campus berühmt. Sicherlich waren die Schulen ein wichtiger Teil der gedeihenden Szene, denn nun griffen auch viele junge Leute zur Klampfe und schrieben ihre eigenen Lieder. "Die vielen damals auf einem Uni-Campus veranstalteten Volksmusik-Konzerte waren mindestens ebenso wichtig wie die vorgestellten Alben", glaubt Chang Chao-wei.
1977 wurde dann erstmals der Musikwettbewerb "Golden Melody Award" als jährliche Veranstaltung für die neue junge Generation von Amateur-Popkünstlern durchgeführt. Die bescheiden gekleideten Gewinner verdrängten schnell die aufgedonnerte Fernsehprominenz als Stars des Tages. "Die in den Schulen, bei dem Musikwettbewerb oder bei gesellschaftlichen Versammlungen gesungenen Lieder wurden anders aufgenommen als die seichten Schnulzen im Fernsehen oder im Radio", erläutert Chang.
Jahrelang blieb die Popularität der Volksmusik bis zum letzten Musikwettbewerb "Golden Melody Award" 1981 ungebrochen. Anfang der achtziger Jahre erhöhten neue Plattenfirmen mit bekannten Persönlichkeiten aus der Volksmusikszene als Mitarbeitern mit frischem Geld ihre Marketing-Etats, und die Volksmusik-Welle ging schnell in den kommerziellen Mechanismen der Popmusik unter. Für Lo Hsiao-yun von der BCC gab es grundsätzlich nie eine Unterscheidung zwischen Volksliedern und Popmusik. "Das Aufkommen der Volkslieder in den siebziger Jahren verkörperte das Eingreifen junger Leute, die ihre Gefühle auf einfache und direkte Weise zum Ausdruck brachten", interpretiert sie. "Taiwanische Volkslieder sind ein Teil der Popmusik, nicht mehr und nicht weniger. Man braucht da nicht zu unterscheiden, außer wenn man auf Ruhm und Lob aus ist und zu diesem Zweck von einer Unterscheidung profitieren will."
Das nächste bedeutende Ereignis in der Geschichte von Taiwans Popmusik markierte im Jahre 1989 die Vorstellung einer neuen taiwanischen Sammel-Platte mit dem Titel "Lieder des Wahnsinns"(抓狂歌). Bis zum Ende des Kriegsrechts im Jahre 1987 hatten nicht-hochchinesische Programme in den Fernsehanstalten der Insel nur wenig Sendezeit bekommen. Lieder auf Taiwanisch, Hakka oder Ureinwohnersprachen gingen höchstens gekürzt in Werbesendungen in den Äther. Die Sammel -Platte rückte taiwanischen Pop nun mehr in den Vordergrund, und das Titel-Lied ebnete Chen Ming-chang(陳明章) den Weg zum Ruhm. Der Sänger Lim Giong(林強) aus der südtaiwanischen Küstenstadt Tainan erhöhte mit seinem Album Vorwärts marsch(向前行) die Popularität taiwanischer Rockmusik. Von dem Album wurden 500 000 Stück verkauft, und es eroberte dem taiwanischen Dialekt einen festen Platz in der kommerziellen Popszene.
Hakka, der Dialekt der zweitgrößten ethnischen Gruppe der Insel, fand auch seinen Weg in die Popmusik, auch wenn er keinen so großen kommerziellen Erfolg erreichte wie taiwanischer Pop. "Die Verwendung in Popmusik hat Hakka wiederbelebt", kommentiert Huang Sun-chuan von Pots Weekly . "Das ist für alte wie junge Hakkas von Bedeutung, denn in der Hakka -Gesellschaft hörte man vorher nur traditionelle Musik."
Doch um Taiwans älteste und unterrepräsentierte Musik zur Mode zu machen, bedurfte es sozusagen einer ausländischen Intervention. Die berühmt gewordene Verwendung von Difang Duanas Gesang durch die Popgruppe Enigma" 1994 lenkte große Aufmerksamkeit auf die Ureinwohnermusik, die man vorher nur auf wenigen obskuren Bildungsaufnahmen hatte hören können. So wurde der Aufstieg einer neuen Generation von jungen Ureinwohner-Popkünstlern wie der Sängerin Chang Hui-mei(張惠妹) oder dem Männerduo Power Station"(動力火車) möglich. Chang Hui-mei -- zumeist "Ah-mei" genannt -- vom osttaiwanischen Stamm der Puyuma wurde auch auf dem chinesischen Festland so populär, dass zuweilen im Scherz gesagt wird, sie habe mit ihrer Stimme das Festland für die Republik China "erobert". (Bei den staatlichen Medien der VR China fiel Ah-mei inzwischen aber in Ungnade, weil sie bei der Amtseinführung des neuen Präsidenten der Republik China, Chen Shui-bian(陳水扁), öffentlich die Nationalhymne der Republik China vorgesungen hatte.)
Um den nicht-chinesischen Stimmen auf der Insel Gehör verschaffen zu können, scheint Kommerzialisierung unvermeidlich. "Eine etablierte kommerzielle Institution braucht zur Bewahrung ihrer Wettbewerbsfähigkeit immer neue Stimmen oder alternative Elemente", verrät Huang Sun-chuan. "Taiwan wird immer reifer und wird eine engere Verbindung zwischen kommerziellen Mechanismen und seinen anderen Kulturen erleben."
Als jedoch die chinesischsprachige Tageszeitung China Times(中國時報), eines der auflagenstärksten Blätter der Insel, im Dezember vergangenen Jahres eine Liste mit den besten zehn chinesischen Pop-CDs aufstellte, gab es keine Einigkeit darüber, welche Form die zunehmende Reife annahm. Das übereinstimmende Gefühl unter den sechs Kritikern war, dass Popmusik manches von ihrer Brillanz und Kreativität verloren habe. Einer der Musikkritiker der Zeitung schrieb, dass Taiwan in einem besonderen Pop-Dilemma verhaftet sei: "Ältere Sänger setzen sich zur Ruhe und hinterlassen Schuhe, die für die jüngeren Stars noch zu groß sind. Die frischen Talente wollen nur ihre Vorgänger nachahmen."
Der Faktor Profit-vor-Qualität ist nach Ansicht von Huang Sun-chuan hauptverantwortlich für die prekäre Lage der Musikbranche. "Der schnelle Verschleiß der Sänger ist der negativste Teil der kommerziellen Mechanismen", warnt er. "Wenn die Künstler pausenlos unter dem Druck stehen, eine Hit-CD nach der anderen vorzustellen, und dabei aber nicht zum Verschnaufen und Nachdenken kommen, dann sind sie nach kurzer Zeit weg vom Fenster."
Der ganzen Branche an sich fehlt wohl ein Sinn für Ausgewogenheit, denn es werden zu viele verschiedene Pop -Stilrichtungen vermarktet bei einem gleichzeitigen Mangel an echter Kritik. Das führt nach den Worten von Chang Chao-wei zu einem "künstlichen Pluralismus". "Besprechungen von Popmusik sind normalerweise in jeder Hinsicht zu dürftig", fügt er hinzu. "Was wir dann zu sehen bekommen, ist die schillernde, modische Oberfläche des Pop anstatt die ganze musikalische Gemeinschaft oder die Kultur hinter der Musik."
In der Auflistung der China Times von 1999 heißt es, dass es trotz der großen Zahl neuer Interpreten in der Popszene wenig Fortschritte gab, abgesehen vom Aufkommen der Schülerbands. Der Musikkritiker Ma Hsin formuliert seine Vorbehalte so: "Während Bands vom chinesischen Festland wirklich neue Ideen und unabhängigen Musikgeschmack präsentieren, befindet diese Insel sich in einem Zustand musikalischer Stagnation. Wie soll Taiwan die chinesische Popszene denn dann in das kommende Jahrhundert führen? Oder werden wir in den nächsten drei bis fünf Jahren von außen mit Popmusik gefüttert werden?"
"Mayday"(五月天), eine von der China Times gelobte Schülerband, hatte mit ihrem Ende letzten Jahres vorgestellten eponymen Debut-Album großen Erfolg. Viele Jahre lang haben Taiwans alternative Bands sich in verräucherten Spelunken und auf Musikfestivals der ganzen Insel abgerackert und waren nur einem kleinen, erlesenen Publikum bekannt. Solche Veranstaltungen bieten den jüngeren Musikern die Gelegenheit zur Verbesserung ihres Könnens und der Darbietung einer anderen Klangwelt. Mayday wurde in einer solchen Kneipe entdeckt und überzeugte mit einer erfolgreichen Mischung aus Independent-Rock und radioreifem Pop. "Mayday ist wie eine Brücke zwischen Pop und dem Untergrund", beschreibt Huang Sun-chuan. "Sie haben die kreativen Eigenschaften einer Untergrund-Band, aber ohne die düsteren Themen von Drogensucht und politischem Streit."
Die Schülerband "Flowers"(花兒們) kommt von der anderen Seite der Taiwanstraße. Im vergangenen Dezember stürmte die Festland-Band mit ihrem Punk-Pop-Album die Top-Ten-Hitliste der Insel. Das Pekinger Trio ist eine der erfolgreichsten Bands vom chinesischen Festland, und in den lokalen Radio-Hitlisten werden wahrscheinlich auch in Zukunft mehr von ihren Verkaufsschlagern erscheinen.
Doch welche Eigenschaften kann Taiwans Pop-Szene denn bis jetzt für sich beanspruchen -- außer Liebeslieder, gelegentliche Kreativitätsausbrüche mit Untergrundsound und weniger bekannte Dialekte? "Taiwans Popmusik kann sehr amerikanisch oder japanisch sein, aber es ist immer noch etwas urtümlich Taiwanisches darin enthalten", deutet Chang Chao-wei. "Was aber nun eigentlich das Taiwanische daran ist, kann ich nicht genau sagen. Hat vielleicht was mit der Sprache zu tun."
Wie Chang schon sagte -- Musik repräsentiert die Art und Weise, wie wir uns das Leben, die Umwelt und die ganze Welt vorstellen. Die Insel steckt im Prozess der Globalisierung und wird gleichzeitig zur Bewahrung lokaler Traditionen gemahnt. Vielleicht hat Taiwan wegen dieser Ungewissheit über die Zukunft und den Anstrengungen der Vergangenheit aus ihrer Popmusik diese vor Liebe triefende Welt konstruiert.